geistliche Impulse

www.pius-kirchgessner.de

Predigt

von P. Pius Kirchgessner, OFMCap

 

Heil allen - hier und heute

3. Sonntag im Jahreskreis, Lesejahr C; Lk 1, 1 - 4; 4, 14 - 21

 

EVANGELIUM

Heute hat sich dieses Schriftwort erfüllt

+ Aus dem heiligen Evangelium nach Lukas

1, 1Schon viele haben es unternommen eine Erzählung über die Ereignisse abzufassen, die sich unter uns erfüllt haben.

2Dabei hielten sie sich an die Überlieferung derer, die von Anfang an Augenzeugen und Diener des Wortes waren.

3Nun habe auch ich mich entschlossen, nachdem ich allem von Beginn an sorgfältig nachgegangen bin, es für dich, hochverehrter Theóphilus, der Reihe nach aufzuschreiben.

4So kannst du dich von der Zuverlässigkeit der Lehre überzeugen, in der du unterwiesen wurdest.

4, 14In jener Zeit kehrte Jesus, erfüllt von der Kraft des Geistes, nach Galiläa zurück. Und die Kunde von ihm verbreitete sich in der ganzen Gegend.

15Er lehrte in den Synagogen und wurde von allen gepriesen.

16So kam er auch nach Nazaret, wo er aufgewachsen war, und ging, wie gewohnt, am Sabbat in die Synagoge. Als er aufstand, um vorzulesen,

17reichte man ihm die Buchrolle des Propheten Jesája. Er öffnete sie und fand die Stelle, wo geschrieben steht:

18Der Geist des Herrn ruht auf mir; denn er hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine frohe Botschaft bringe; damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Blinden das Augenlicht; damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze

19und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe.

20Dann schloss er die Buchrolle, gab sie dem Synagogendiener und setzte sich. Die Augen aller in der Synagoge waren auf ihn gerichtet.

21Da begann er, ihnen darzulegen: Heute hat sich das Schriftwort, das ihr eben gehört habt, erfüllt.

 

„Heute hat sich das Schriftwort, das ihr eben gehört habt, erfüllt.“ – Mit diesem Satz, der einen ungeheuren Anspruch Jesu zum Ausdruck bringt, endet das heutige Evangelium. Die kirchliche Leseordnung erspart uns freundlicherweise die Fortsetzung des ersten öffentlichen Auftretens Jesu in seiner Heimatstadt. Erst am nächsten Sonntag hören und sehen wir, wie die Landsleute Jesu auf die Predigt ihres Landsmannes reagieren. Sie geraten nämlich in Wut und stellen sich gegen ihn. Ja, ihre Ablehnung steigert sich bis zu dem Versuch, Jesus umzubringen.

 

Übersehen wird aber leicht, wie unser Evangelium beginnt. Nach dem Vorwort (Lk 1, 1 - 4) heißt es, dass Jesus - erfüllt von der Kraft des Geistes Gottes - aus der Wüste in seine engere Heimat, nach Galiläa, zurückkehrt. Dort zieht er umher und predigt in den Synagogen. Es wird betont, dass sich die Kunde von ihm in der ganzen Gegend verbreitete und dass er von allen gepriesen wurde.

 

Erst in Nazareth, seiner Heimatstadt, dort, wo er aufgewachsen war, regt sich - nach anfänglicher Zustimmung und Erstaunen - Widerstand und Ablehnung.

So wird es später auch an anderen Orten und bei anderen Gelegenheiten sein. Denn was Jesus den Menschen zu sagen hat, dann auch sein Verhalten und Handeln, ruft zur Entscheidung und trennt die Menschen in Anhänger, Gleichgültige und Gegner. Die einen werden von seinen Worten und seinem Tun aufgerichtet, sie schöpfen neue Kraft und Hoffnung. Die anderen fühlen sich provoziert und angegriffen und reagieren aggressiv.

 

Liebe Schwestern und Brüder!

„Der Herr hat mich gesandt, damit ich den Armen eine frohe Botschaft bringe; damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Blinden das Augenlicht; damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe.“ – Diese Sätze des Propheten Jesaja, die Jesus in der Synagoge von Nazareth vorliest und in ihm selbst hier und heute als erfüllt sieht, diese Sätze sind fortan das Programm Jesu. Das wird von nun an bis zu seinem Tod sein Maßstab sein.

Alles, was er sagt, ist im Grunde nichts anderes als die immer neue Auslegung des Jesaja-Wortes in die jeweilige Situation. Alles, was er tut, macht die Verheißung des Propheten wahr. Egal, ob er sich den Randfiguren zuwendet oder die Armen seligpreist; ob er Kranke heilt oder mit Zöllnern und Sündern isst; ob er Zachäus vom Baum holt oder die Ehebrecherin in Schutz nimmt – immer folgt er dem Programm, das er in der Synagoge von Nazareth aufgestellt hat.

Er weiß sich gesandt von Gottes Geist. Und er weiß, dass Gott ein parteiischer Gott ist. Gott hält sich nicht heraus, schwebt nicht über allem und ist mehr als eine moralische Instanz. Gott ist ein Gott für die Armen und Gefangenen, für die Blinden und Zerschlagenen und für alle, die auf den Anbruch eines Gnadenjahres in ihrem Leben warten.

 

Liebe Schwestern und Brüder!

Die christlichen Kirchen und Gemeinden werden sich auf Jesus nicht berufen können, ohne zugleich sein Programm zu ihrem Programm zu machen. Und die Sätze des Propheten werden auch Orientierung und Maßstab für alle sein, die sich Christen nennen und es sein wollen.

Auch an ihrem Glauben, Leben und Wirken soll spürbar und ablesbar werden, dass Arme gute Nachrichten hören dürfen, dass Gefangene und Zerschlagene Befreiung erfahren und dass Blinden neue Sichtweisen eröffnet werden. Jünger und Jüngerinnen Jesu sollen das zunächst selbst erfahren dürfen. Dann aber soll es sie auch in ihrem Umgang mit anderen prägen.

 

Es geht um die Praxis der konkreten christlichen Gemeinde, auch der hier vor Ort in N. Auch hier gibt es die Armen, im wörtlichen wie im übertragenen Sinn, die auf gute Nachrichten warten. Ich denke an die Trauernden, die in letzter Zeit einen geliebten Menschen verloren haben, die schweren Herzens loslassen mussten und dadurch arm geworden sind. „Gute Nachrichten“ tun hier gut, Zeichen der Aufmerksamkeit und Worte des Trostes, manchmal vielleicht auch das schweigende Aushalten oder Mitweinen. Auch hier vor Ort, hier bei uns, gibt es „Gefangene“, die auf Befreiung warten. Ich denke an die Menschen, die sich einsam und verlassen fühlen oder an Menschen, die sich in Schuld verstrickt haben. Aus diesen und ähnlichen „Gefangenschaften“ zu befreien, wird unter Umständen viel Geduld erfordern und den mühsamen Weg vieler kleiner Schritte der Zuwendung und der Vertrauensbildung.

 

Wer aber mit den Augen Jesu im Kopf und dem Programm des Propheten Jesaja im Hinterkopf auf seine Umgebung schaut, wird all das entdecken können: die Armen und die Gefangenen, die Blinden und die Zerschlagenen. Und wer sich von Gottes Geist anrühren lässt, kann hier und heute „gute Nachrichten“ bringen, kann helfen und heilen, aufrichten, trösten und befreien.

 

Und dann kann hier und heute geschehen, was in der Synagoge von Nazareth geschah, als Jesus die Sätze des Propheten Jesaja gelesen hat: Alles, was wir gehört haben, kann sich heute erfüllen. Heil allen, denen das Nötigste fehlt. Heil allen, die in irgendeiner Art Gefangene sind. Heil allen, die in irgendeiner Art blind sind. Heil allen – hier und heute durch uns – weil auch wir „Gesalbte“ sind, Getaufte, Gefirmte, Frauen und Männer, in denen Gott in dieser Welt gegenwärtig sein und wirken will.