Im Evangelium haben wir heute gleich zwei Wundererzählungen gehört, die
Erzählung von der Auferweckung der Tochter des Jairus und darin
eingebettet die Heilungserzählung einer Frau, die seit zwölf Jahren an
Blutfluss litt.
Zwölf Jahre: eine lange Zeit! Zwölf Jahre immerzu blutend.
Ich stelle mir das schrecklich vor. Was für ein Schicksal! Welch
furchtbares Leid!
Viele Ärzte hat die Frau bereits aufgesucht, so berichtet der
Evangelist. Ihr ganzes Vermögen hat sie ausgegeben. Es hat nichts
genutzt. Im Gegenteil: Es ist immer schlimmer geworden.
Wer kann die Qualen und Komplexe dieser Frau ermessen?
Ist eine solch schwere Blutung schon belastend und peinlich an sich, so
kommt für diese Frau hinzu, dass sie nach jüdischem Gesetz als unrein
galt. Unreinheit hatte nicht nur den Ausschluss vom Gottesdienst zur
Folge, sondern bedeutete Unberührbarkeit im buchstäblichen Sinn, eine
Isolierung innerhalb von Familie und Gesellschaft. So kommt zur
körperlichen Krankheit noch soziale Ächtung und Ausgrenzung hinzu.
Aber damit nicht genug. Muss diese Frau nicht auch das Gefühl des
Ausfließens, des Sich-selbst-Verlierens gehabt haben?
Ob sie die Angst kannte, zu verbluten, völlig auszubluten?
Ob sie ihr Frausein als ein Ausfließen, als ein Sich-Verausgaben erfuhr?
Ob sie von anderen gebraucht und ausgenutzt wurde?
Jedenfalls, mit so einer Frau weiß niemand etwas anzufangen.
Aus Angst vor Berührung und Ansteckung hält sich jeder von ihr fern. Und
in ihrer Scham zieht sie sich selber immer mehr zurück, ist allein mit
ihrer Not, abseits vom Leben, abgeschnitten von Beziehungen. Ein
Teufelskreis! Eine ausweglose Situation!
Doch die Frau gibt nicht auf. Ihre Heilung beginnt, wo sie sich selbst
traut, etwas für sich zu holen bzw. sich etwas zu nehmen. Das hat sie
sich bisher nie getraut. Sie war immer nur für die anderen da und hat
gegeben, sich eingesetzt und sich hingegeben. Und wurde dabei immer
weniger, immer schwächer.
Als sie von Jesus hört, mobilisiert sie all ihre Kräfte, macht sich auf
und sucht durch das Gedränge der Menschen einen Weg zu Jesus. Sie sagt
sich: „Wenn ich auch nur sein Gewandt berühre, werde ich geheilt.“
Zum ersten Mal traut sie sich zu nehmen, was sie braucht.
Sie möchte heil sein, gesund, befreit von ihrem furchtbaren Leiden. Sie
vertraut darauf, dass Jesus ihr helfen kann.
Allerdings, Jesus direkt und von sich aus anzusprechen, das traut die
Frau sich nicht. Aber heimlich, wenigstens von hinten ihn berühren, d.h.
nicht ihn selbst, sondern nur sein Gewand.
So wagt sie wie verstohlen die Berührung. Sie soll wie ein Zufall
aussehen, ganz absichtslos. Und doch liegt in dieser Berührung die
Hoffnung, das Vertrauen und die Zuwendung eines gesamten Lebens. Aus den
Händen dieser Frau spricht der letzte Funke eines unbändigen
Lebenswillens, der auf Jesus überspringt.
Durch den Glauben und das Zutrauen der Frau kommt ein Kraftstrom
zwischen ihr und Jesus zustande. Und sie wird gesund. Der Blutfluss
versiegt.
Jesus – eigentlich unterwegs zur todkranken Tochter des Jairus - bemerkt
den heimlichen Annäherungsversuch der Frau. Er spürt: das war keine
zufällige Berührung. Es ist eine Kraft von ihm ausgegangen.
Jesus will den Menschen sehen und kennenlernen, der sich ihm genähert
hat. Diese Frau ist ihm jetzt wichtig. Er nimmt sich Zeit für sie.
Und sie meldet sich. Sie kommt heraus aus ihrem Versteck. Ganz offen und
ehrlich sagt sie, was mit ihr los ist und was geschehen ist. Sie fällt
vor Jesus nieder und sagt ihm die ganze Wahrheit.
Sie hat seine heilende und vertrauenerweckende Ausstrahlung gespürt. So
bringt sie es fertig, vor ihm alles zu sagen, was sie bewegt. Sie fühlt
sich angenommen mit ihrer ganzen Lebensgeschichte und mit ihrem
Frausein.
Und Jesus? Kein Wort fällt darüber, dass sie nicht hätte tun dürfen, was
sie getan hat.
Er sagt einfach nur: „Meine Tochter“ – eine ganz familiäre Anrede
– „meine Tochter, dein Glaube, d.h. dein Vertrauen, hat dir geholfen!
Geh in Frieden!“
Jesus durchbricht die Schranke des Gesetzes und die Rolle der
Geschlechter.
Er nimmt die Frau ernst. Er sagt zu ihr „meine Tochter“.
Jesus heilt nicht nur ihre Blutung. Er gibt ihr darüber hinaus die
Ermutigung mit: fühl dich nicht wertlos! Du bist jemand. „Meine
Tochter“! Du bist es wert, geheilt zu werden! Du bist es wert, dass
jemand auf dich aufmerksam wird. Du bist kein „Mauerblümchen“! Du bist
kein Aschenputtel! Versteck dich nicht und schäm dich nicht!
Sehen Sie: das möchte Jesus und das versteht er unter Glauben, die Angst
und Scheu zu überwinden, die bis zur Krankheit das Leben verunstalten
und zerstören können, und statt dessen zu glauben und zu vertrauen.
„Dein Glaube hat dir geholfen“, sagt Jesus, „dein Glaube“,
gemeint ist: dein Vertrauen.
Liebe Mitchristen!
Die Heilung der blutflüssigen Frau zeigt uns Jesus als Heiland. Sie
zeigt uns seinen Willen zu retten und zu heilen, und zwar ganzheitlich,
Leib und Seele. Die Heilung der blutflüssigen Frau offenbart uns die
helfende Güte Gottes und seine barmherzige Liebe.
„Meine Tochter“,
redet Jesus die Frau zärtlich an.
Jesus schenkt das, was jeder Mensch am meisten braucht: Liebe.
Er lässt Menschen erfahren, dass sie von ihm als Gottes geliebte Töchter
und Söhne angenommen, bejaht und geliebt sind.
Das gilt auch uns. Und das ist – im wahrsten Sinne des Wortes – frohe
Botschaft.