Was für eine Geschichte,
spannend und voller Dynamik!
Allerdings auch sehr
bekannt. Schon im Kindergarten findet sie Verwendung. Auch bei
Familiengottesdiensten wird sie gern genommen. – Schauen wir die
Erzählung einmal genauer an:
Jesu zieht mit seinen
Jüngern und viel Volk aus der Stadt Jericho. Am Wegrand sitzt ein
blinder Bettler, Bartimäus.
Blind, Bettler, draußen, am
Rand: 4-faches Elend!
Muss solch ein Mensch nicht
das Gefühl haben, unwert zu sein, unnütz, im wahrsten Sinn des Wortes
ein gesellschaftlicher Außenseiter, weithin unbeachtet, ungeborgen und
schutzlos.
Bartimäus: eine
Jammergestalt, ein Bild der Erniedrigung, leibhaftige Hoffnungslosigkeit
– bis er Jesus begegnet.
Wie er hört, dass Jesus
vorbeikommt, sieht er die Chance seines Lebens und ergreift sie
energisch. Er beginnt aus Leibeskräften zu rufen. Und niemand kann ihn
daran hindern.
Trotz heftigen Widerstands
und trotz Einschüchterung schreit er Jesus unbeirrt und immer lauter
seine Not entgegen.
Meines Erachtens beginnt
hier schon das „Wunder“ der Heilung. Denn dass Bartimäus schreit,
dass der blinde Bettler sich überhaupt hervorwagt, überrascht. – Bisher
hat er seine eigenen Wünsche immer verdrängt und ignoriert. Immer hat er
gekuscht, sich geduckt, sich angepasst und gefügt. – Jetzt geht er
plötzlich aus sich heraus, wird aggressiv. Er schreit aus voller Kehle.
Bartimäus setzt alles auf
eine Karte, jetzt oder nie. Totales und buchstäblich blindes Vertrauen
in Jesus, den er „Sohn Davids“ nennt und in dem er den
verheißenen Retter erkennt.
Und was passiert? Was
passieren muss!
Man ärgert sich über ihn,
man droht ihm, zu schweigen.
„Er aber schrie noch
lauter“, heißt
es, „je mehr sie ihn anfuhren“.
Er lässt sich den Mund nicht
mehr verbieten.
Eine hochdramatische Szene!
Und Jesus? Er hört das Rufen
des Blinden aus der Menge, im Gedränge, im Gewirr der Stimmen. Und er
bleibt stehen.
Das ist für mich eine sehr
bewegende Stelle:
Mitten im Strom der großen
Menge von Menschen bleibt Jesus stehen wegen einem Einzigen. Ihm wendet
er sich zu. Für ihn nimmt er sich Zeit. Für ihn ist er jetzt da. Dieser
ist ihm jetzt wichtig. Für solche Menschen ist er gekommen.
Dann lässt Jesus Bartimäus
zu sich rufen. Da wechselt die Stimmung plötzlich. Jetzt machen die, die
den Blinden gerade noch eingeschüchtert haben, ihm Mut.
„Hab Mut! Steh auf! Er
ruft dich!“
Aus Ausgrenzung wird
Unterstützung, aus Drohung Ermutigung.
Man könnte das das zweite
„Wunder“ in der Geschichte nennen.
Meines Erachtens beginnt
aber hier bereits die Heilung des Bartimäus, da nämlich, wo er zu sich
selber steht, wo er sich nicht mehr einschüchtern lässt, sondern sich
gegen allen Widerstand behauptet und mit aller Kraft, laut und
ausdauernd zu Jesus um Erbarmen ruft.
Und dann?
Voll Erwartung springt
Bartimäus auf und wirft seinen Mantel weg und damit alles, was er hat.
Und er, der Blinde, läuft zielstrebig – als sei er schon sehend – Jesus
entgegen.
Nun stellt Jesus an
Bartimäus eine Frage, die sehr merkwürdig ist: „Was soll ich dir
tun?“ Wörtlich: „Was willst du, dass ich dir tue?“ – Warum
fragt Jesus den Blinden, was er ihm tun soll? Er sieht doch, was dem
Mann fehlt.
„Was willst du, dass ich
dir tun soll?“
Die Frage Jesu hilft Bartimäus, seine Bedürftigkeit wahrzunehmen und
seine Not vor Jesus hinzutragen und auszusprechen.
Jesus handelt nicht einfach
über den Kopf des Bartimäus hinweg. Heilung geschieht nicht passiv.
„Was willst du, dass ich
dir tun soll?“
Offenbar kommt es darauf an,
dass er, Bartimäus, der blinde Bettler, der aus Angst vor Zurückweisung
und Liebesentzug sich nie getraut hatte, ja es sich regelrecht abgewöhnt
hatte, etwas zu wollen, zu fordern oder sich herauszunehmen, dass dieser
Mensch klar und deutlich ausspricht, was er will.
„Rabbuni, ich möchte
wieder sehen können“
Bartimäus war also nicht von
Geburt an blind, sondern ist im Laufe seines Lebens erblindet. Und damit
trat all das ein, was zu damaliger Zeit mit Blindsein einherging:
Verarmung, Betteln, Ausgestoßensein, Angewiesensein auf das Wohlwollen
anderer, absolute Hilflosigkeit, ein Leben am untersten Rand. Das alles
verbirgt sich in der Bitte „Ich möchte wieder sehen können“.
Jesus, der göttliche Arzt,
braucht eigentlich nicht mehr zu tun, als zu bestätigen: „Dein Glaube
hat dir geholfen!“
Es sieht fast so aus, als
habe Jesus gar kein Wunder gewirkt, als habe er nur die letzten Reserven
des blinden Bettlers aktiviert. Dessen Wille, wieder sehen zu wollen und
sein Vertrauen auf Jesus haben ihn geheilt. „Geh, dein Glaube“,
d. h. die Kraft deines Vertrauens, „hat dir geholfen.“
Liebe Mitchristen!
Es gibt Wüstenblumen, die
sehen aus, als wenn kein Leben mehr in ihnen wäre. Sie vegetieren in
Dürre und Trockenheit. Kaum aber fällt Regen, schießen sie auf und
treiben Blüten. Sie zeigen, dass sie niemals vergessen haben, was es
heißt, zu leben.
Bartimäus hat allerdings
nicht nur sein Augenlicht wieder erlangt.
Es gehen ihm auch die Augen
auf für Jesus. Er wird sehend für Jesus und seinen Weg.
Der letzte Satz heißt:
„Er folgte Jesus auf seinem Weg.“
Bartimäus schließt sich
Jesus an.
Es ist wichtig zu beachten,
dass diese Blindenheilung die letzte Wundererzählung im Markusevangelium
ist und an der Schwelle zur Passion steht, unmittelbar vor dem Bericht
vom Einzug Jesu in Jerusalem.
Während die anderen Jünger
noch weithin blind sind für Jesus und seine Sendung, nichts verstehen
und nichts begreifen, ja Jesus abbringen wollen von seinem Weg, sich
unterwegs streiten, wer von ihnen der Größte ist, die ersten Plätze im
Reich Gottes reklamieren, folgt Bartimäus von sich aus Jesus auf
seinem Weg. Es ist der Weg hinauf nach Jerusalem; Leiden und Kreuz
entgegen.
Aus dem am Straßenrand
sitzenden Bettler wird ein Nachfolger Aus dem Blinden ein Sehender.
Bartimäus wird zum vorbildhaften Jünger.
Vorbildhaft auch für uns!
Wir sollen sehend werden und nachfolgen, nicht aus Furcht, die den
Jüngern den Blick verstellt (vgl. Mk 10,32), sondern mit erleuchteten
Augen, mit Augen, die im Kreuzesleiden Jesu das Heilswerk der Erlösung
erkennen, die Macht seiner Liebe, das Wunder des göttlichen Erbarmens.
Noch etwas verdient unsere
Aufmerksamkeit:
Der Ruf des blinden
Bartimäus „Kyrie eleison“ hat Eingang gefunden in die Liturgie
der Kirche. Sowohl beim blinden Bettler als auch im Gottesdienst ist
dieser Bittruf ein Bekenntnis zu Jesus, unseren Erlöser und Heiland.
Übrigens, der Ruf lebt heute
auch weiter im „Jesusgebet“.
Athos-Mönche und andere
wiederholen bis zu tausendmal am Tag: „Jesus, Sohn Davids, erbarme
dich meiner!“
Sie erinnern sich damit
ständig an Jesus, den Sohn Gottes, an ihn, der für uns gestorben und
auferstanden ist, der uns geliebt und sich für uns hingegeben hat.
Liebe Schwestern und Brüder!
Auch wir können uns dieses
Gebet zu eigen machen. Es ist ein Gebet für uns alle. Es kann uns
helfen, immer und überall in der Gegenwart Gottes zu leben. Es kann
helfen, immer wieder neu von der Blindheit des Herzens befreit zu werden
und die heilende Kraft des Glaubens zu erfahren.
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