Exerzitien mit P. Pius

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Russische Bettlerin

(Bildmeditation zu einer Bronzeplastik von Ernst Barlach, 1907)

Eine Frau kauert mit nach vorne gebeugtem Oberkörper auf dem Boden, halb sitzend, halb liegend. Ihr Haupt ist tief geneigt und durch eine Art Kapuze am Mantelkleid verdeckt und eingehüllt. Das Gesicht ist verborgen. Augen, Mund und Nase sind allenfalls zu ahnen. Wahrt sie, sich verhüllend, ihre Würde?

Den linken Arm hat die Frau weit nach vorne ausgestreckt. Die Hand ist auf den Füssen abgelegt. Sie ist offen und leer wie eine Schale, bittend nach „draußen“ hingestreckt, hingehalten einem unbekannten möglichen Du.

In einer Gegenbewegung dazu bildet der Oberkörper der Frau vom Scheitel bis zum Rücken eine gerundete Linie, eine Kurve der Demut, flach, geduckt. Kopf und Rücken sind wie unter einer schweren Last gebeugt.

Aber die Frau ist nicht zerbrochen. Mit ihrer rechten Hand stützt sie sich fest am Boden ab. Sie spürt noch festen Grund unter sich. Da ist ein Fundament, das trägt und hält.

Die Frau sagt nichts und fragt nichts. Sie wartet, sie hofft, sie bettelt geduldig. Sie schaut auch nicht hin, ob ihr jemand etwas gibt, wer es ist und wie viel jemand gibt. Sie blickt vielmehr unter sich. Schaut sie in sich hinein?

Die Gestalt ist eine einzige Gebärde stummer Hilflosigkeit und flehender Ohnmacht. Armut, Angewiesensein auf andere, Anonymität des Elends.

 

Wie konnte es so weit kommen?

Will sie nicht erkannt werden? Schämt sie sich, weil sie tut, was sie tut und vielleicht tun muss? Hat sie je einen Beruf erlernt und ausgeübt? Ist sie durch überschwere Arbeit krank geworden, gekrümmt worden, herunter gekommen und zum Wrack geworden? Ob sie Angehörige hat? Ob sie Kinder besaß, die ihre Mutter vergessen haben? Fühlt sie sich einsam? Niemand ist zu sehen. Kein Helfer, kein Fürsorger, keiner, der Mitleid hat, niemand, der sich erbarmt.

 

Ernst Barlach hat dieser Plastik den Titel „Russische Bettlerin“ gegeben. Entstanden ist sie 1907 infolge einer Reise nach Russland im Jahr zuvor. – Russland war das Land, in dem die tiefgreifendsten gesellschaftlichen Veränderungen des 20. Jahrhunderts begonnen hatten. Barlach fühlte sich in den Strudel der umwälzenden Ereignisse hineingezogen und dadurch gezwungen, sich mit den sozialen und politischen Fragen kritisch auseinanderzusetzen.

 

Die „Russische Bettlerin“ und ähnliche Werke Barlachs spiegeln diese Auseinandersetzung wieder. Barlach konfrontiert den Betrachter unmittelbar mit dem Bild der Armut und Hilfsbedürftigkeit. Der ganze Mensch wird zur stummen Bitte, ausgedrückt in der Geste der ausgestreckten offen und leeren Hand.

 

Ist in diesem Bild nicht eine Urtatsache menschlichen Lebens ausgedrückt?

Sind wir nicht alle Bettler? Kann sich nicht jede und jeder in der Gestalt am Boden sitzend, die Hand bettelnd hingehalten, wiederfinden?

Auch ich bin Bettler. Auch ich kann mich in dieser Frau erkennen als arm, bedürftig, hilfesuchend, erwartungsvoll, angewiesen auf das Wohlwollen und die Güte meiner Mitmenschen. Andererseits stimmt auch: Nur leere Hände lassen sich ergreifen, nur leere Hände können gefüllt werden.

 

Die ausgestreckte, offene Hand ist ein Sinnbild.

Ich suche jemanden, der mir mit seiner Hand entgegenkommt, der sich mir zuwendet, mich ansieht, mir Ansehen schenkt, mich versteht und mich annimmt.

Das Eigentliche des Lebens kann ich nicht erwerben, nicht machen.

Das Eigentliche des Lebens ist Geschenk.

Der Apostel Paulus fragt: „Was hast du, das du nicht empfangen hättest?“

Habe ich mir schon einmal überlegt, wie sehr ich Empfangender bin, wieviel mir geschenkt ist? Mache ich mir nicht etwas vor, wenn ich denke, ich habe alles, ich brauche nichts, ich brauche die anderen nicht? Auf was bin ich nicht angewiesen jeden Tag?

Wo ist bei mir die Hand leer? Und wie viele Menschen strecken mir täglich gleichsam ihre leeren Hände entgegen?

Jesus sagt: „Umsonst habt ihr empfangen, umsonst sollt ihr geben!“

 

Werner Bergengrün hat in einem Gedicht die Zeilen:

„Liebt doch Gott die leeren Hände und der Mangel wird Gewinn,

stets erweist das Ende sich als strahlender Beginn.“

 

Gott liebt die leeren Hände. Was als Mangel erscheint, kann zum Gewinn werden. Was scheinbar Ende bedeutet, ist in Wirklichkeit verheißungsvoller Anfang: Mich selbst an Gott aus der Hand geben; mich selbst auf IHN hin loslassen und gleichzeitig mich selbst als Gabe von Gott empfangen dürfen

 

Alfred Delp sagt: „Das gebeugte Knie und die hingehaltenen leeren Hände sind die beiden Urgebärden des freien Menschen.“

 

Die Geste der leeren Hand: Urbild des Menschen in seiner Kreatürlichkeit, in seiner Bedürftigkeit, seinem Suchen und Fragen, seinem Angewiesen-Sein auf andere, seinem Empfangen und Sich-Verschenken.

Gertrud von Helfta hat das Wort: „Vor dir steht die leere Schale meiner Sehnsucht.“

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