geistliche Impulse

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Bildmeditation

von P. Pius Kirchgessner, OFMCap

 

Der Traum der Magier

(Bildmeditation zu einem Steinrelief in der Kathedrale von Autun) 

 

Der Stern hatte die Magier gemeinsam geführt. In großer Freude hatten sie das Messiaskönigskind gefunden. Gemeinsam beteten sie an und boten ihre Gaben dar.

Vordergründig könnte man meinen, der Weg sei hier zu Ende und das Ziel erreicht in der Begegnung mit IHM, im Anschauen, Niederfallen und Huldigen.

 

Doch dies ist nicht der Schluss der Geschichte und nicht das Ende der abenteuerlichen Reise. Da war ja noch der Wunsch des Herodes, zu ihm zurückzukommen und ihm Bericht zu erstatten. Der Wunsch dieses mächtigen Herrschers war den Magiern gewiss Befehl. Doch zu dieser Berichterstattung bei Herodes kommt es nicht. Etwas kommt dazwischen. Gott selbst greift ein im Traum, im Schlaf. Durch einen Boten wird ihnen gesagt, dass sie nicht zu Herodes zurückkehren sollen. So entweichen sie auf einem anderen Weg heim in ihr Land.

 

Die Szene ist dargestellt auf dem Kapitell einer Säule in der romanischen Kathedrale von Autun.

Es handelt sich um ein Steinrelief des Meisters Gislebertus aus den Jahren 1120/1130.

 

Drei Männer liegen ruhend – nicht besonders bequem, sondern sehr eng – nebeneinander.

Auch im Schlaf tragen sie noch die Kronen, Zeichen ihrer königlichen Würde.

 

Sie liegen zusammen in einem Bett.

Zugedeckt sind sie nur mit einer Decke, die in einem großen Bogen halbkreisförmig über sie gebreitet ist.

Die Decke weist viele, ruhig fließende Falten auf – wie die Linien einer Baumscheibe.

Gemeinsame Lebenslinien? Rhythmen gleichen Schicksals?

 

Die Decke verrät erlesenen Geschmack und Kostbarkeit.

Sie ist mit Perlen und Edelsteinstickerei eingefasst und gibt den Dreien Geborgenheit und Wärme.

 

Obgleich die Drei unter einer Decke stecken, sind sie sehr verschieden.

Bei genauerem Hinsehen erkennt man, dass jede Krone ein anderes Muster hat.

Der obere der Drei hat einen Schnauzbart, der mittlere ist glatt rasiert, der untere trägt einen Vollbart.

Auch scheinen sie verschiedenen Lebensphasen anzugehören:

Der mittlere dem Jugendalter, der obere der Lebensmitte und der untere dürfte wohl der Betagteste von ihnen sein.

 

Zwei von ihnen liegen auf dem Rücken, der dritte - oben – auf der Seite.

Die zwei, die auf dem Rücken liegen, scheinen fest und tief zu schlafen.

Sie sehen zufrieden, sorglos und entspannt aus. Große Ruhe beherrscht ihr Gesicht.

Der obere, der mehr auf der Seite liegt, hat sich nicht ganz in die Decke eingekuschelt.

Sein rechter Arm liegt entblößt auf der Decke.

Er scheint wach zu sein oder im Halbschlaf.

Als einziger hat er die Augen geöffnet.

 

Aber er sieht weder den funkelnden Stern am Himmel noch die jugendliche Gestalt hinter dem Bett, die mit bewegtem Schwung sich von rückwärts dem Lager der Drei naht.

Flügel, Nimbus und Stirnband weisen ihn als Engel aus, als Boten Gottes.

Sein Blick lässt ahnen, dass es um eine wichtige Sache geht.

Der linke Arm des Engels ist ausgestreckt.

Eindringlich weist er mit dem Zeigefinger auf den Stern, der wie eine Blume aussieht und deutlich über den Köpfen der drei Ruhenden steht.

 

Die Hand des oberen Königs, die auf der Decke liegt, weist in die andere Richtung.

Meint er zu wissen, wie es weiter zu gehen hat, wo der Weg hingeht?

Denkt er, so muss es laufen, so muss es sein?

Sagt ihm der Engel: Halt! Nicht so! Anders! Denk um!

Der Weg geht nicht nach Jerusalem und nicht zu Herodes zurück.

 

Sagt er ihnen damit nicht gewissermaßen:

Richtet euch nicht länger nach den Königen und Theologen der Außenwelt, sondern hört nach innen!

Lernt auf die Botschaft zu hören, die aus der Tiefe eurer Seele aufsteigt!

Hört und achtet auf die Sprache Gottes im Traum!

Lernt seinen Zuspruch zu vernehmen!

 

Trotz der Dringlichkeit seiner Botschaft rüttelt der Engel die Drei nicht gewaltsam wach.

Vielmehr tippt er mit dem Zeigefinger seiner Rechten ganz zart die Hand dessen an, der – günstigerweise – seinen entblößten Arm auf der Decke liegen hat.

So rücksichtsvoll rührt er ihn an, dass er nicht aufschreckt, doch so nachdrücklich auch, dass er die Augen öffnet.

 

Will der Engel ihn bewegen, sich umzudrehen und den Arm zu wenden, sich ihm zuzuwenden und hin zum Stern?

Will er ihm sagen: Bleib nicht liegen! Weck die andern! Steht auf!

Geht weiter, aber nehmt einen anderen Weg heim in euer Land! Folgt dem Stern!

 

Ein Glück, dass dieser König nicht ganz mit den anderen unter einer Decke steckt!

Wie gut, dass er ein Stück Geborgenheit entbehrt.

Der Mangel wird ihm zum Vorteil und durch ihn letztlich allen zum Gewinn.

 

Wo er offen ist, kann der Engel ihn sanft berühren, ihm sozusagen einen Tipp geben.

Und es scheint, er ist empfindsam dafür. Er spürt den zarten Fingerzeig. Er ist ansprechbar für behutsame Impulse.

Wenn er sich dreht, gewahrt er den Engel und sieht den Stern, der ganz nah bei ihm ist, direkt auf Augenhöhe.

Wie gut, dass sich sein Blick öffnet, dass er sich öffnet für den Boten und seine Botschaft, für die leisen Impulse, Weisungen, Zeichen und Einsprechungen Gottes.

 

Nun kann er selber zum Boten, zum Engel werden für die anderen, wenn er sie weckt und ihnen erzählt vom Engel und vom Stern.

So können sie sich neu orientieren, neu ausrichten, die Richtung ändern, eine neue Richtung einschlagen, auf anderem Weg heimkehren in ihr Land.

 

 

WAS SAGT UNS DIESES BILD?

WELCHE AUFFASSUNG VOM MENSCHEN SPRICHT AUS DIESEM KUNSTWERK?

 

Wenn die Könige Vertreter der ganzen Menschheit sind und wenn die dargestellte Szene, dieser „Traum der Magier“, keine zufällige ist, sondern symbolisch zu verstehen ist und für den ganzen menschlichen Lebensweg steht, dann ist der Mensch zunächst offenes Auge und offenes Ohr, ja fühlende Hand; dann ist er zuerst der Vernehmende, der von außen angesprochen wird, von der Natur, vom Mitmenschen, von dem, was ihm widerfährt, was er erlebt.

Oder auch von Innen angesprochen, von seinem Innern bis hinein in die Träume, die Signale aus der Tiefe sind, Botschaften der Nacht, die aus der Seele aufsteigen.

 

Jedenfalls ist der Mensch zuerst der Vernehmende, nicht der von sich aus eigenmächtig Handelnde.

Zunächst ist er der Horchende und dann der Gehorchende,

zunächst der Wahrnehmende und dann der Agierende.

 

Wahrnehmen kommt vor Tun, Hören vor Handeln,

Meditation kommt vor Aktion, Sammlung vor Sendung.

 

Das Tun folgt dem Wahrnehmen, so wie die Himmelsbeobachtung der Weisen ihrer Pilgerfahrt vorausgeht und ihre Reise dem Stern folgt und ihr Weg dem Fingerzeig, der Weisung des Boten.

 

Ihr Handeln ist zwar notwendig, um ihr Ziel zu erreichen, doch ist es nur Folge, Ausführung der empfangenen Weisung.

 

Vernehmen und entsprechend dem Vernommenen handeln, ist das dem Menschen gemäße und das ihn kennzeichnende. Des Menschen Aufgabe ist es, immer aufmerksamer, immer achtsamer zu werden.

Wahrnehmen, die Sinne öffnen: Ohren, Augen, Hände, das Gemüt, den Geist, das Herz!

Und immer williger, immer bereiter und fähiger, dem Wahrge­nommenen zu folgen und entsprechend der erhaltenen Weisung zu handeln.

 

Die Sterndeuter brauchten den Fingerzeig von oben, um nicht in die Irre zu gehen.

Gerade in dieser wichtigen und kritischen Stunde bedurften sie – wie so oft auf ihrer Reise – des überirdischen Hinweises, der göttlichen Führung, um nicht fehlzugehen.

 

Auch die Sterndeuter schlafen.

Aber sie sind – zumindest einer von ihnen – spürsam, fühlig für den Anstoß, vernehmend für die Weisung.

Sie lassen sich anrühren, wecken, stehen auf und gehorchen und folgen den Winken Gottes.

 

In der Pfingstsequenz heißt es: „Du Finger Gottes, der uns führt.“.

 

Gott winkt allerdings nicht mit dem Zaunpfahl, geschweige denn mit dem Scheunentor, sondern eher sacht, sanft, behutsam.

 

Er schreit nicht und lärmt nicht.

Er spricht eher leise, oft sehr leise, fast überhörbar.

Er berührt zärtlich.

Es bedarf großer Sensibilität, Achtsamkeit, Feinfühligkeit, um wahrzunehmen.

 

Wer abgestumpft ist, abgebrüht, verhärtet, wird nichts spüren, nichts wahrnehmen, nichts vernehmen.

 

„Heute, wenn ihr seine Stimme hört, verhärtet nicht euer Herz“ (Ps 95).

 

In einem Gedicht von Nelly Sachs heißt es:

 

„Wenn die Propheten einbrächen

durch die Türe der Nacht

und ein Ohr wie eine Heimat suchten,

würdest du hören?

Hättest du ein Herz zu vergeben?“

 

Und ebenso Nelly Sachs:

 

„Ihr Ungeübten, die in den Nächten

nicht hören. Viele Engel sind euch gegeben,

aber ihr seht sie nicht“

 

Kommt auch zu uns noch ein Engel?

 

Ein Licht in der Dunkelheit?

Ein Stern in der Nacht?

Orientierung in Ausweglosigkeit?

Klarheit in Verwirrung?

Wer öffnet uns den Blick über uns hinaus?

 

Kommt auch zu uns noch ein Engel?

 

Der Mensch, der mich anrührt?

Das Wort, das mich bewegt?

Die Not, die mich trifft?

Das Glück, das mir widerfährt?

Die Sorge des Nächsten?

Ein Ereignis oder Erlebnis, da betroffen macht?

 

Merke ich den Wink?

Spüre ich den Fingerzeig?

Höre ich die leise Stimme?

Nehme ich die behutsamen Impulse wahr?

Bin ich offen? Bin ich ansprechbar?

 

Oder bin ich ein seelischer „Dickhäuter“, den alles kalt lässt,

der nicht mehr aufwacht zu Besinnung und Umkehr,

der eigentlich schon „tot“ ist?

 

Wie sollen wir hören angesichts des Lärmes um uns und in uns?

Wie sollen wir wahrnehmen angesichts der lauten Töne, der vielen Stimmen, der schrillen Bilder?

 

Nehme ich den göttlichen Rat, die Einsprechungen des Hl. Geistes ernst? Lasse ich mich stören?

Lasse ich mich herausholen aus Bequemlichkeit und Resignation?

Lasse ich mich ein? Oder dreh ich mich um, schlafe weiter, mach weiter wie bisher,

gehe zur Tagesordnung über, verschließe mich, will meine Ruhe.

Alles bleibt beim Alten, alles geht weiter im gleichen Trott?

 

Vielleicht kann ich für dich, vielleicht kannst du für mich ein Engel sein? (vgl. 2 Petr. 1,16-19; Gl. 111,4)

 

Hat Gott mich auch schon einmal „aufgeweckt“ und mir eine neue Richtung gezeigt?

Winke, Fingerzeige Gottes in meinem Leben...

 

Wo finde ich Orientierung, Sinn und Ziel?

 

Wo, wie, wodurch fühle ich mich gegenwärtig berührt, angesprochen?

Ist es Zuspruch oder Anspruch? Oder beides zugleich?

 

In welche Richtung bin ich unterwegs?

Wo will Gott mich haben?

Bin ich mit meinem Leben auf der richtigen Spur?