geistliche Impulse

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Predigt

von P. Pius Kirchgessner, OFMCap

 

Er stellte ein Kind in ihre Mitte

(25. Sonntag - Lesejahr B; Mk 9, 30 - 37)

 

EVANGELIUM                                                                                                   

Der Menschensohn wird den Menschen ausgeliefert

Wer der Erste sein will, soll der Diener aller sein

 

+ Aus dem heiligen Evangelium nach Markus

In jener Zeit

30zogen Jesus und seine Jünger durch Galiläa. Jesus wollte aber nicht, dass jemand davon erfuhr;

31denn er wollte seine Jünger über etwas belehren. Er sagte zu ihnen: Der Menschensohn wird den Menschen ausgeliefert, und sie werden ihn töten; doch drei Tage nach seinem Tod wird er auferstehen.

32Aber sie verstanden den Sinn seiner Worte nicht, scheuten sich jedoch, ihn zu fragen.

33Sie kamen nach Kafarnaum. Als er dann im Haus war, fragte er sie: Worüber habt ihr unterwegs gesprochen?

34Sie schwiegen, denn sie hatten unterwegs miteinander darüber gesprochen, wer von ihnen der Größte sei.

35Da setzte er sich, rief die Zwölf und sagte zu ihnen: Wer der Erste sein will, soll der Letzte von allen und der Diener aller sein.

36Und er stellte ein Kind in ihre Mitte, nahm es in seine Arme und sagte zu ihnen:

37Wer ein solches Kind um meinetwillen aufnimmt, der nimmt mich auf; wer aber mich aufnimmt, der nimmt nicht nur mich auf, sondern den, der mich gesandt hat.

 

 

Zum zweiten Mal spricht Jesus auf dem Weg durch Galiläa von seinem Tod und seiner Auferstehung. Doch die Jünger verstehen nicht. Sie haben anderes im Kopf. Sie träumen von Macht und Größe. Sie denken an gute Posten im Reich Gottes und streiten um die ersten Plätze.

 

Vielleicht schütteln wir über die Jünger den Kopf.

Doch sind wir so viel anders als die Jünger? Verstehen wir Jesus?

Der Größte sein zu wollen, oben sein zu wollen, den Ton anzugeben und die erste Geige spielen zu wollen, so fremd ist uns dieses Bestreben gar nicht, oder? Schon Kinder wollen groß sein.

Und ehrlich gesagt: Ist es nicht angenehmer „oben“ zu sein anstatt „unten“, das Sagen zu haben anstatt zu tun, was andere wollen?

 

Als Jesus merkt, womit sich die Jünger beschäftigen, rügt er sie nicht. Er verurteilt nicht das Bestreben, Erste sein zu wollen.

Nur der Weg dorthin ist ungewöhnlich, nämlich: als der Letzte Diener aller zu sein.

 

Es ist der Weg Jesu. Er selbst ist ihn gegangen. Er hat selber so gelebt. In seinem Leiden und Sterben ist er Diener aller geworden. Da hat er unsere Sünden auf sich geladen und hat unsere Angst und Gottverlassenheit auf sich genommen.

Seine Auferstehung ist der „Platzwechsel“. Er, der sich in Krippe und Kreuz auf den letzten Platz begab, er ist erhöht und „sitzt zur Rechten des Vaters“.

Kein Zweifel: Er ist der „Menschensohn“, in dem sich Gott den Menschen ausgeliefert hat, und den sie nicht ertragen, weil er Liebe verkörpert, statt Macht.

 

Wie wir zu der Haltung finden, nicht um jeden Preis „groß“ sein zu müssen, verdeutlicht Jesus durch eine Zeichenhandlung. Er stellt ein Kind in die Mitte.

 

Wenn Jesus ein Kind in die Mitte stellt, dann nicht wegen seiner Unschuld. Kinder können schrecklich zänkisch sein, neidisch, stur, schadenfroh, egoistisch und aggressiv.

Auch Jesus erzählt einmal von launischen Kindern, die auf der Flöte spielen und zum Tanz einladen, aber die anderen wollen einfach nicht mitspielen. Und schon gibt es Streit.

 

Wenn Jesus ein Kind in die Mitte stellt, dann nicht, weil Kinder so anrührend sind oder unschuldig. Der Vergleichspunkt ist vielmehr das Vertrauen des Kindes. Das Kind vertraut, dass es das Lebensnotwendige ohne Gegenleistung geschenkt bekommt.

 

Noch etwas: Wenn Jesus ein Kind in die Mitte stellt, dann macht er deutlich, dass er uns in den Kleinen, den Geringen, den Schwachen, den Machtlosen und Armen begegnet, in denen, die sonst wenig ernst genommen werden und auf die sonst keiner hört.

 

Theoretisch ist das vielleicht alles klar und einleuchtend. Doch praktisch tun wir uns immer wieder so schwer mit dem Kleinsein, dem Dienen, mit dem letzten Platz.

 

Der französische Philosoph Maurice Blondel schreibt in einem Brief: „Ich ging mitten in Paris über eine der belebtesten Straßen. Es war Nachmittag. Plötzlich stand ein kleines Mädchen vor mir, mit einem etwas abgetragenen Kleid, einer laufenden Nase und einem rührend unbeholfenen Blick. Ohne Scheu das Kind zu mir auf und sagte: ‚Bitte, mach mir meine Schuhe zu!‘

Wie auf Befehl kniete ich mich hin und knotete die Schnürsenkel.

Als ich aufschaute, war das Kind schon wieder verschwunden. Ich kniete noch immer auf der Straße. Die Leute schauten mich an. Ein erwachsener Mann am helllichten Nachmittag kniend auf der Straße. Langsam erhob ich mich. Und unwillkürlich musste ich an die Bibelstelle denken: ‚Da gingen ihnen die Augen auf und sie erkannten IHN.‘“

 

Das Evangelium ist und bleibt eine Provokation, eine dauernde Anfrage an jede und jeden von uns, wie ernst wir die Worte und Zeichenhandlungen Jesu nehmen und wie weit sie unseren Alltag und unser Leben prägen, als Einzelne, als Glaubensgemeinschaft, als Gemeinde und als Kirche.

 

Nur wenn wir unseren Selbstwert nicht in Konkurrenz zu anderen erleisten müssen, können wir darauf verzichten, uns mit aller Kraft nach oben zu kämpfen. Wir müssen dann nicht ständig unsere Stärke und unsere Überlegenheit demonstrieren. Wir müssen dann nicht in immer neuen Rankings zeigen, wer der Mächtigste, der Schlagkräftigste, der Erste und Größte ist.

 

Nur wenn wir wie ein Kind werden – also offen, unbefangen, vertrauensselig – wird uns das Reich Gottes zuteil, sagt Jesus. Es ist ein Geschenk, um das wir bitten sollten.

 

Wir schaffen es nicht aus eigener Kraft, wie ein Kind zu werden. Wir müssen Gott bitten, dass er uns hilft und dass er – so wie Jesus damals – uns in seine Arme nimmt und uns segnet.

Gottes Arme sind immer für uns offen, für einen jeden und jede.

 

Öffnen auch wir unsere Arme und Hände und vor allem unser Herz für die Schwachen, die Geringen und Armen, für all diejenigen, die keine Lobby haben, keine Fürsprecher und all diejenigen, die unseres Trostes, unseres Schutzes und unserer Hilfe besonders brauchen. Was wir einem der Geringsten getan haben, IHM haben wir es getan!